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Sex im Islam - Liebe, Lust und Leidenschaft

22:15
 
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Let's talk about sex! Das Bild des Islam ist konservativ, vor Jahrhunderten aber schrieben muslimische Gelehrte offen über Erotik, Liebe und Sex. Sex wurde wie Essen und Trinken als etwas Natürliches angesehen. Heute ist der Umgang mit Sex im Islam häufig ein anderer. (BR 2021) Autorin: Claudia Steiner

Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Bürkle, Julia Cortis, Christian Schuler
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Ali Ghandour, Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster;
Dr. Meltem Kulacatan, Religionspädagogin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main;
Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt- Universität zu Berlin;
Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaften von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster;
Fahimah Ulfat, Professorin und Religionspädagogin an der Universität Tübingen

Literaturtipps:

Ali Ghandour, Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime, C.H. Beck

Meltem Kulacatan, Geschlechterdiskurse in den Medien: Türkisch-deutsche Presse in Europa, Springer VS

Fahimah Ulfat und Ali Ghandour (Hrsg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule: Theologische und didaktische Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Springer VS

Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab: Das Erbe der Antike und der Orient, C.H. Beck

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ZITATORIN (S. 122)

„Lust auf eine glatte Vulva,

nach Safran duftend!

So eng wie eine Tülle, so voll wie Höcker,

dass ein Penis darin ersticken würde.

Ja, süßer als Honig ist sie für den Genießer.“

SPRECHERIN

… schrieb die Dichterin ʿAmra bint al-Hamāris im 7. Jahrhundert über ihren Körper. Let’s talk about sex – über Jahrhunderte war das in vielen muslimisch geprägten Gesellschaften überhaupt kein Problem.

SPRECHERIN

Verschleierte, entrechtete Frauen, Polygamie, Harems, Homophobie – die westlichen Vorstellungen über Liebe, Leidenschaft, Sex und Erotik in muslimischen Gesellschaften sind nicht selten von Missverständnissen geprägt. Denn zum einen gibt es nicht DEN Islam, sondern unterschiedliche Entwicklungen, Strömungen und Interpretationen vom 7. Jahrhundert bis heute in verschiedenen Ländern, Kulturen und Gesellschaften auf der ganzen Welt. Zum anderen zeigen Schriften, dass in muslimischen Gesellschaften über Jahrhunderte Sex und Liebe gefeiert und als Geschenk Gottes gesehen wurden, sagt Ali Ghandour. Er lehrt am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster und hat ein Buch mit dem Titel „Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“ geschrieben:

O-TON 1 (Ghandour 1, 0.02)

Ja, es herrschen einige Vorurteile über das Thema. Zum Beispiel Sex ist nicht etwas, was mit der Sünde verknüpft wurde bei Muslimen, der Sex ist nicht per se schlecht oder etwas, was dämonisch ist. Sex ist eher positiv konnotiert in der muslimischen Tradition.

MUSIK

SPRECHERIN

Es ging nicht nur darum, wie Männer ihre Lust und den Genuss maximieren konnten, auch die weibliche Lust spielte eine große Rolle.

O-Ton 2 (Ghandour, 1, 0.55)

Zum Beispiel in vielen erotologischen Werken wurde die weibliche Lust ziemlich ausführlich thematisiert, sprich: was die Frau zum Höhepunkt bringt. Auch die Anatomie der Frau wurde in diesen Werken studiert, auch sexuelle Positionen, die der Frau eher gefallen. Also, all das finden wir in diesen Werken. Es ist zwar aus einer männlichen Perspektive geschrieben, aber die weibliche Lust, wurde schon ernst genommen.

SPRECHERIN

So schrieb der Gelehrte Ibn al-Hāddsch im 12. Jahrhundert:

ZITATOR (S. 138)

„Man sollte nicht wie die Unwissenden handeln, die die Frau

ohne jeden Übergang penetrieren. Vielmehr soll man mit der Frau spielen

und in einer erlaubten Weise mit ihr kokettieren,

durch Berührungen, Küsse und Ähnliches. Erst wenn man

merkt, dass sie sich wohlfühlt und für den Akt bereit ist, erst

dann kann man mit ihr Geschlechtsverkehr haben.“

SPRECHERIN

Das westliche Bild des Harems, geprägt von Männerfantasien – vermittelte den Eindruck, dass muslimischen Männern Dutzende oder gar Hunderte Frauen zur sexuellen Verfügung stehen. Der Franzose Jean Auguste Dominique Ingres malte im 19. Jahrhundert barbusige und nackte Frauen, die sich lustvoll auf Diwanen oder in türkischen Bädern räkelten. Tatsächlich waren Harems einfach die Frauenabteilungen von Herrscherhäusern, in denen neben den Frauen auch Dienerinnen und Sklavinnen lebten. Der Begriff Harem geht auf das arabische Wort „haram“ zurück, was „verboten“ heißt. Der Harem war also ein privater Bereich im Palast, der für Außenstehende tabu war.

Eine Zeitzeugin war die Lyrikerin Lady Montagu. Sie lebte mit ihrem Mann, der britischer Botschafter in Konstantinopel war, am Bosporus und besuchte die Gemächer, die den Frauen vorbehalten waren. Sie schrieb, dass die Realität nichts mit den erotischen Gemälden des Orientalismus zu tun hatte, sagt der Islamwissenschaftler Professor Thomas Bauer von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster:

O-TON 3 (Bauer, 5.35)

Die Lady Montagu, die in dem 18. Jahrhundert herumreiste und sich damals schon mokierte über die ganzen Harems-Schilderungen, auch die Schilderung von Frauen-Bädern von Männern aus dem Westen (…) Lady Montagu sagte, dass sie eben die Einzige war, die auch in Frauen-Bädern war und die sah, wie absurd teilweise die Männerfantasien des Westens waren, die ja in einer Zeit entstanden, die ein sehr gespaltenes Verhältnis auch zur Sexualität hatte.

SPRECHERIN

Lady Montagu war zudem der Ansicht, dass türkische Frauen generell deutlich bessergestellt waren als britische.

O-TON 4 (Bauer, 03:46)

Die Lady Montagu sagte, dass die islamische Frau im Grunde freier ist als die britische Frau, weil sie über ihr eigenes Vermögen verfügen kann – was damals ja in England oder auch in Deutschland auch nicht ging. Das heißt, manchmal war die Frau sogar reicher als der Mann, es gibt einen bekannten Fall. Der berühmteste Hadith-Gelehrte überhaupt aus dem 14. Jahrhundert ist Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī. Der hatte die allerhöchsten Ämter inne, war Oberkadi in Kairo und hat im Haus seiner Frau gelebt, die eben noch reicher war.

SPRECHERIN

Durchschnittliche Muslime hatten keinen Palast und damit auch keinen Harem, Polygamie aber war - wie in anderen patriarchalischen Gesellschaften auch, zum Beispiel bei den alten Persern und den vorislamischen Arabern – erlaubt. Noch heute wird sie in einigen Ländern wie Pakistan, Afghanistan oder Nigeria praktiziert, in anderen Ländern ist sie verboten. Dabei war die Ehe mit mehreren Frauen im Islam aber nie die übliche Lebensform, sagt die Religionspädagogin Meltem Kulacatan von der Goethe-Universität Frankfurt am Main:

O-TON 5 (Kulacatan, 17.44)

Also (eine Konkubine oder wegen Nebengeräusch) eine Geliebte beziehungsweise mehrere Frauen, das wissen die betroffenen Männer, würde ich jetzt mal sagen - auch in Deutschland, muss man sich erst mal leisten können. Nichts Anderes ist das im Islam. Und es war als Notsituation, Notlösung gedacht für gesellschaftliche Situationen, wo Männer beispielsweise durch Kriege versehrt werden und wo es einen Frauenüberschuss gibt in einem patriarchalischen Kontext, wo Frauen einen Vormund benötigen und hier letzten Endes die Eheschließung mit maximal vier weiblichen Personen - vorausgesetzt, man wird ihnen allen gerecht auf die gleiche Art und Weise - ermöglicht werden sollte.

SPRECHERIN

Neben der Versorgung von Witwen wurden zum Beispiel auch Zweitfrauen genommen, wenn die Ehe mit der ersten Frau kinderlos blieb, sagt der Islamwissenschaftler Bauer:

O-TON 6 (Bauer, ca. 2.40)

Wenn man eine Frau heiratete, und man wollte bei ihr bleiben, hat aber festgestellt, dass der Kinderwunsch unerfüllt bleibt, da hat dann oft eine zweite Frau aus dem Dilemma geholfen. Aber man muss ja auch dazu sagen das ist natürlich, die Frauen untereinander sich ja auch irgendwie verstehen müssen – sonst wird die Ehe ja zu einer Hölle. Und in der Tat hat bei einigen Theologen diese Forderung, alle vier Frauen oder alle Frauen eins, zwei, drei (…) oder vier gleichermaßen gerecht zu behandeln, dazu geführt, dass man auch durchaus Verständnis für die (…) Monogamie entwickelt hat und sagte: eigentlich ist es nicht erlaubt.

SPRECHERIN

Umstritten unter Theologen ist die „Ehe auf Zeit“, eine zeitlich begrenzte Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau. Diese Genussbeziehung – die von schiitischen Strömungen als legitim angesehen wird - kann nur drei Tage oder auch mehrere Jahre dauern. Im Koran heißt es in Sure 4, Vers 24:

ZITATORIN (Koran, Rudi Paret)

Und verboten sind euch die ehrbaren Ehefrauen, außer was ihr an Ehefrauen als Sklavinnen besitzt. Dies ist euch von Gott vorgeschrieben. Was darüber hinausgeht, ist euch erlaubt, nämlich dass ihr euch als ehrbare Ehemänner, nicht um Unzucht zu treiben, mit eurem Vermögen sonstige Frauen zu verschaffen sucht. Wenn ihr dann welche von ihnen im ehelichen Verkehr genossen habt, dann gebt ihnen ihren Lohn als Pflichtteil! Es liegt aber für euch keine Sünde darin, wenn ihr, nachdem der Pflichtteil festgelegt ist, darüberhinausgehend ein gegenseitiges Übereinkommen trefft. Gott weiß Bescheid und ist weise.

SPRECHERIN

Die Frau bekommt also eine Ehegabe. Zudem muss der Mann während der Dauer der Verbindung für die Frau aufkommen. Männer, die sich zeitlich befristet verheiraten, können bereits eine Frau haben, Frauen müssen dagegen unverheiratet sein. Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin:

O-TON 7 (Kurnaz, 11.46)

Das ist eine alt-arabischen Tradition, die scheinbar einige Jahre auch (…) während der Lebzeiten des Propheten Mohammed (…) praktiziert worden ist. Die Überlieferungen zeigen, dass er das eine Zeit lang zugelassen hat. Scheinbar soll das die Verhältnisse regulieren, dass wenn jemand sich lange Zeit an einem anderen Ort befindet, (…) das ist eine Beziehung, die man führt, bei der danach ganz klar wird, dass jemand mit jemandem zusammen ist. Und wenn es Kinder aus dieser Ehe gibt beziehungsweise Beziehungen gibt, dann wird dieses Kind dann auch entsprechend identifiziert.

SPRECHERIN

Die Frauen mussten nach Ablauf ihrer Zeitehe zwei Menstruationszyklen warten, bis sie erneut heiraten durften. Im Iran ist die Zeitehe auch heute noch möglich. Die Kritik der Sunniten an dieser Form der Verbindung lautet, dass sie Prostitution ermöglicht, die es aber sowieso über Jahrhunderte gab. Zeitweise existierten Register, in die sich Prostituierte eintragen mussten. Es gab Tavernen, Bordelle und Unterkünfte, in denen man Prostituierte antraf. Prostitution wurde in mehreren Dynastien besteuert und war ein wichtiger Wirtschaftszweig.

In den meisten Epochen wurde das Gewerbe toleriert, manchmal aber auch bekämpft und bestraft, indem Prostituierte zum Beispiel des Viertels verwiesen wurden.

ZITATOR (S.82)

„Den Wein trägt ein Effeminierter in Frauenkleidung,

dessen Schläfe Moringaduft trägt.

Er küsst die Trinker, während

er sich flink unter uns bewegt.

Mal ist er unser Lustgarten

für unsere reifen und steifen Hengste,

mal ist er unser Schenker und Narzisse.“

SPRECHERIN

… schrieb der Dichter Abū Nuwās im 8. Jahrhundert über gleichgeschlechtlichen Sex, der durchaus üblich und verbreitet war. Ali Ghandour:

O-TON 8 (Ghandour, 8, 0.18)

Zum Beispiel, wenn wir jetzt das 9. und 10. Jahrhundert in Bagdad nehmen, waren die gleichgeschlechtlichen Beziehungen sehr verbreitet, auch unter der Oberschicht, aber auch unter der Unterschicht. Und das Gleiche kann man auch über das 15., 16. Jahrhundert in Ägypten sagen oder später auch über Istanbul sagen. Also, es war schon verbreitet, und in meiner Forschung habe ich kaum ein Phänomen, dass wir heute kennen, was nicht damals auch bekannt war und praktiziert war.

SPRECHERIN

Dies führte teilweise sogar dazu, dass sich Frauen in Bagdad weniger feminin gaben, um Männern zu gefallen, sagt der Berliner Wissenschaftler Kurnaz:

O-TON 9 (Kurnaz, ca. 3.02)

Es gab zum Beispiel Frauen, die sich bewusst ähnlich wie die Männer gekleidet haben, um aufzufallen.

SPRECHERIN

Doch die Frage, ob jemand heterosexuell oder homosexuell veranlagt war, stellte sich lange gar nicht. Diese Kategorisierung stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Thomas Bauer:

O-TON 10 (Bauer, 8.22)

In den islamischen Kulturen ging man einfach davon aus, dass alle erwachsenen Männer gleichermaßen sich in hübsche, junge Frauen und in hübsche, junge Männer verlieben können, die unterschiedlichen Vorlieben sah man nicht anders an als unterschiedliche Vorlieben beim Essen. Das heißt also, dass sich in einen jungen Mann zu verlieben war für einen Mann etwas, was (…) ihn nicht zur Überlegung brachte, ob er nun eine andere Identität hätte als andere Männer.

SPRECHERIN

Im Laufe der Jahrhunderte gab es - je nach Rechtsauffassung - gar keine Strafen für gleichgeschlechtlichen Sex bis hin zum Auspeitschen oder der Todesstrafe durch Steinigung. Eine Verurteilung war aber nur dann möglich, wenn vier männliche, muslimische, unbescholtene Zeugen den Akt beobachtet haben.

Das heißt, selbst in Epochen, in denen Sex zwischen Männern offiziell bestraft worden ist, wurden diese Strafen fast nie vollzogen.

SPRECHERIN

Auch Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen sind überliefert. Im 9. Jahrhundert soll eine Dienerin und Sängerin mit dem Namen Badhal vor dem abbasidischen Kalifen al Maʿmūn gesungen haben, dass nichts köstlicher sei als Sex mit einer Frau. Der Kalif soll geantwortet haben, dass der Sex zwischen Mann und Frau besser sei, als lesbischer Sex.

SPRECHERIN

Dies zeige, so Ali Ghandour, wie ungehemmt am abbasidischen Hof selbst vor den Mächtigen über Sex gesprochen werden konnte. Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen galten zwar als moralisch falsch, lösten aber offenbar keine gesellschaftlichen Debatten aus.

SPRECHERIN

Über Jahrhunderte waren die Sichtweisen in Bezug auf Erotik, Liebe, Leidenschaft und Sexualität sehr liberal. Zu einem klaren Wandel kam es jedoch im 19. Jahrhundert, so Ghandour:

O-TON 11 (Ghandour, 9, 0.12)

Durch den Kolonialismus wurden Vorstellungen über die Sexualität und auch eine Sexualmoral verbreitet, die damals ziemlich konservativ war. Wir denken jetzt zum Beispiel an die viktorianische Sexualmoral.

Auch die Einführung von neuen Kategorien, mit denen wir die Sexualität normieren, wie zum Beispiel das Perverse, das Nicht-Natürliche… Oder die Gesetze, die von Franzosen und Engländern erlassen wurden, die zum Beispiel die Homosexualität in den Kolonien verbieten.

SPRECHERIN

Auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sieht einen deutlichen Anteil des Westens an der heutigen Sexualmoral in muslimisch geprägten Ländern:

O-TON 12 (Bauer, 34,38)

Also, zuerst hielt man islamische Gesellschaften für unmoralisch, und dachte, man muss sie (…) von diesen schrecklichen Lastern befreien. Heute hält man sie für repressiv und sagt: Man muss sie ja von dieser Repression befreien. Das glaube ich ist wirklich ein wichtiger Punkt. Was im Westen ist, was bei uns hier geschieht, es ist immer universell. Solange wir dachten, dass Liebesbeziehungen zwischen Männern etwas Unordentliches sind und diese Muslime sich in diesen schrecklichen Lastern hier suhlen und damit auch zu keiner richtigen Entwicklung kommen, da ist man hingegangen, hat gesagt: Ihr müsst damit aufhören oder auch Polygamie und ähnlichen Dingen. Heute gilt es bei uns ja als ganz normativ, das ist ja was Gutes bei uns. Jetzt geht man hin und sagt: Ihr müsst euch jetzt befreien und in die andere Richtung gehen. Ich glaube, dass diese missionarischen Botschaften, die vom Westen kommen, der sich immer egal welche Meinung er hat, für universell und für Menschheits bildend hält, dass das ein Übel ist.

SPRECHERIN

Nach Ansicht von Ali Ghandour gibt es aber noch weitere Aspekte, die zu einem Wandel geführt haben wie die Entstehung von modernen Nationalstaaten oder auch die Entstehung von muslimischen Ideologien, die mehr oder weniger sexfeindlich waren:

O-TON 13 (Ghandour, 9, 1.23)

Und ein weiterer Grund ist die Landflucht, die im Laufe des 20.Jahrhunderts stattfand und die dazu geführt hat, dass diese alte, urbane, mehr oder weniger bürgerliche Tradition verschwand.

SPRECHERIN

Tatsächlich sind viele muslimische Gesellschaften heute deutlich konservativer als noch vor ein paar Jahrhunderten. Doch solange es um einen normativen Diskurs geht und einen Bezug auf historische Quellen gibt, fühlen sich viele islamische Gelehrte noch immer frei, detailliert über Sex und Erotik zu sprechen, betont Serdar Kurnaz:

O-TON 14 (Kurnaz, 16.30)

Zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Pflichten hat der Mann gegenüber der Frau in der Ehe in Bezug auf Geschlechtsverkehr, dann werden auch zum Beispiel so Überlieferung zitiert, und dann wird darüber gesprochen, wie genau ein Geschlechtsakt auszusehen hat. (…) Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Gelehrten sich dazu verpflichtet fühlen, vor allem in dem normativen Diskurs (…) detailliert darzustellen, wie, was gemacht werden kann oder was alles erlaubt ist, um auch der Verpflichtung gerecht zu werden, dass sie all das, was sie für richtig halten, den Menschen auch entsprechend kommunizieren. Da fühlen Sie sich frei. Da geht es auch darum, zum Beispiel bestimmte sexuelle Praktiken (…), zum Beispiel Sexspielzeuge zu benutzen, Cremes zu benutzen und so weiter, um die Lust zu maximieren, nehmen sie dann als Anlass, eine normative Aussage darüber zu treffen, - und dann wird es auch recht detailliert und recht offen.

SPRECHERIN

Moderne Sexualpädagogik für junge Musliminnen und Muslime in Deutschland dreht sich – wie bei jungen Menschen anderer Religionen auch - um Fragen wie: Wie gehe ich mit meinem Körper um? Wie gehen wir mit unserer Lust um? Was bedeuten Verlobung und Hochzeit? Welche Verhütungsmöglichkeiten gibt es? Die Frankfurter Religionspädagogin Meltem Kulacatan:

O-TON 15 (Kulacatan, 14.20)

Es gibt ja auch Sexualaufklärer/innen - muslimische, die hier pädagogische Arbeit leisten, sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden und in Schweden beispielsweise. Die werden häufig von den jungen Menschen angerufen, auch frequentiert und angefragt.

SPRECHERIN

Die Religionspädagogin Fahimah Ulfat, Professorin an der Universität Tübingen, plädiert deshalb dafür, dass Sexualität nicht nur im Biologie-, sondern auch im Religionsunterricht thematisiert wird:

O-TON 16 (Ulfat, 3.1, 1.20)

Ja, im islamischen Religionsunterricht ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass Sexualität ein Teil des Menschseins ist. Und dass es auch wichtig ist, die eigene Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sich über seinen eigenen Körper bewusst zu werden, sich ein Bild von den eigenen Genitalien und dem Körperinneren zu machen, das heißt auch, seinen eigenen Körper zu erfahren.

SPRECHERIN

Viele muslimische Jugendliche befänden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität.

O-TON 17 (Ulfat, 2, 2.00)

Beispielsweise wird in manchen konservativen Familien Sexualität zum Teil tabuisiert. Es wird mit Scham und Respekt verbunden, und man spricht eben nicht darüber und zum Teil wird auch ein enger Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Ehre hergestellt. Und mit diesem Konzept der Familienehre gehen auch geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen einher.

SPRECHERIN

Andere junge Muslime kritisierten die traditionellen Rollenbilder und die Moralvorstellungen von Keuschheit und Ehre, so Ulfat:

O-TON 18 (Ulfat, 2.48)

Sie äußern sich eben kritisch zu den Einstellungen, das Männer zugebilligt wird, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, aber von Frauen erwartet wird, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen. Und sie verurteilen auch diese starren Geschlechterrollen und die unterschiedliche Sexualmoral in Bezug auf die Geschlechter. Es gibt aber auch muslimische Jugendliche, die ihre Sexualität als ihre private Angelegenheit ansehen und Sexualität ist dann auch für sie ein selbstverständlicher Teil ihrer persönlichen Identität. Aufklärung findet zum Beispiel innerhalb der Familie sehr früh in einer offenen Art und Weise statt und Ehre wird auch von den Eltern nicht am Sexualleben der Tochter festgemacht. (…) Und dann gibt es natürlich auch Beispiele für junge Musliminnen, die sich eben nicht an diese Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen auch außerhalb der Ehe sammeln.

SPRECHERIN

Untersuchungen zeigen, dass die Art und Weise, wie Muslime heutzutage in unterschiedlichen Ländern über die Sexualität sprechen, wie sie ihre Sexualität leben, eben nicht nur von der Religion abhängt. Ali Ghandour:

O-Ton 19 (Ghandour, Take 11, 0.24)

Zum Beispiel die soziale Herkunft oder die Bildung spielen hier eine wesentliche Rolle. Das heißt, in der Oberschicht und in der Mittelschicht, in den urbanen Milieus, in den muslimisch geprägten Ländern wird offener mit dem Thema umgegangen als jetzt auf dem Land oder in bildungsfernen Milieus oder in der Unterschicht. Es ist auch eine soziale Frage, wie man mit dem Thema umgeht, hat auch mit Privilegien zu tun und nicht nur (…) mit der Religion oder mit einem bestimmten Islamverständnis zu tun.

SPRECHER / ZITATORIN (abwechselnd)

Zügellos. Zurückhaltend. Schamlos. Schambehaftet. Freizügig. Bedeckt. Homophob. Erotisch. Selbstbewusst. Lust-betont. Orgiastisch.

SPRECHERIN

Es gibt nicht DEN Islam, nicht DIE allgemeingültigen Regeln für Sexualität und Liebe, sondern unterschiedliche Interpretationen, Ausprägungen, Ansichten und Lebensweisen – die je nach Epoche, Region und Gesellschaftsschicht fluide sind.

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Let's talk about sex! Das Bild des Islam ist konservativ, vor Jahrhunderten aber schrieben muslimische Gelehrte offen über Erotik, Liebe und Sex. Sex wurde wie Essen und Trinken als etwas Natürliches angesehen. Heute ist der Umgang mit Sex im Islam häufig ein anderer. (BR 2021) Autorin: Claudia Steiner

Credits
Autor/in dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Katja Bürkle, Julia Cortis, Christian Schuler
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Dr. Ali Ghandour, Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster;
Dr. Meltem Kulacatan, Religionspädagogin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main;
Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt- Universität zu Berlin;
Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaften von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster;
Fahimah Ulfat, Professorin und Religionspädagogin an der Universität Tübingen

Literaturtipps:

Ali Ghandour, Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime, C.H. Beck

Meltem Kulacatan, Geschlechterdiskurse in den Medien: Türkisch-deutsche Presse in Europa, Springer VS

Fahimah Ulfat und Ali Ghandour (Hrsg.), Islamische Bildungsarbeit in der Schule: Theologische und didaktische Überlegungen zum Umgang mit ausgewählten Themen im Islamischen Religionsunterricht, Springer VS

Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab: Das Erbe der Antike und der Orient, C.H. Beck

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ZITATORIN (S. 122)

„Lust auf eine glatte Vulva,

nach Safran duftend!

So eng wie eine Tülle, so voll wie Höcker,

dass ein Penis darin ersticken würde.

Ja, süßer als Honig ist sie für den Genießer.“

SPRECHERIN

… schrieb die Dichterin ʿAmra bint al-Hamāris im 7. Jahrhundert über ihren Körper. Let’s talk about sex – über Jahrhunderte war das in vielen muslimisch geprägten Gesellschaften überhaupt kein Problem.

SPRECHERIN

Verschleierte, entrechtete Frauen, Polygamie, Harems, Homophobie – die westlichen Vorstellungen über Liebe, Leidenschaft, Sex und Erotik in muslimischen Gesellschaften sind nicht selten von Missverständnissen geprägt. Denn zum einen gibt es nicht DEN Islam, sondern unterschiedliche Entwicklungen, Strömungen und Interpretationen vom 7. Jahrhundert bis heute in verschiedenen Ländern, Kulturen und Gesellschaften auf der ganzen Welt. Zum anderen zeigen Schriften, dass in muslimischen Gesellschaften über Jahrhunderte Sex und Liebe gefeiert und als Geschenk Gottes gesehen wurden, sagt Ali Ghandour. Er lehrt am Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster und hat ein Buch mit dem Titel „Liebe, Sex und Allah – Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“ geschrieben:

O-TON 1 (Ghandour 1, 0.02)

Ja, es herrschen einige Vorurteile über das Thema. Zum Beispiel Sex ist nicht etwas, was mit der Sünde verknüpft wurde bei Muslimen, der Sex ist nicht per se schlecht oder etwas, was dämonisch ist. Sex ist eher positiv konnotiert in der muslimischen Tradition.

MUSIK

SPRECHERIN

Es ging nicht nur darum, wie Männer ihre Lust und den Genuss maximieren konnten, auch die weibliche Lust spielte eine große Rolle.

O-Ton 2 (Ghandour, 1, 0.55)

Zum Beispiel in vielen erotologischen Werken wurde die weibliche Lust ziemlich ausführlich thematisiert, sprich: was die Frau zum Höhepunkt bringt. Auch die Anatomie der Frau wurde in diesen Werken studiert, auch sexuelle Positionen, die der Frau eher gefallen. Also, all das finden wir in diesen Werken. Es ist zwar aus einer männlichen Perspektive geschrieben, aber die weibliche Lust, wurde schon ernst genommen.

SPRECHERIN

So schrieb der Gelehrte Ibn al-Hāddsch im 12. Jahrhundert:

ZITATOR (S. 138)

„Man sollte nicht wie die Unwissenden handeln, die die Frau

ohne jeden Übergang penetrieren. Vielmehr soll man mit der Frau spielen

und in einer erlaubten Weise mit ihr kokettieren,

durch Berührungen, Küsse und Ähnliches. Erst wenn man

merkt, dass sie sich wohlfühlt und für den Akt bereit ist, erst

dann kann man mit ihr Geschlechtsverkehr haben.“

SPRECHERIN

Das westliche Bild des Harems, geprägt von Männerfantasien – vermittelte den Eindruck, dass muslimischen Männern Dutzende oder gar Hunderte Frauen zur sexuellen Verfügung stehen. Der Franzose Jean Auguste Dominique Ingres malte im 19. Jahrhundert barbusige und nackte Frauen, die sich lustvoll auf Diwanen oder in türkischen Bädern räkelten. Tatsächlich waren Harems einfach die Frauenabteilungen von Herrscherhäusern, in denen neben den Frauen auch Dienerinnen und Sklavinnen lebten. Der Begriff Harem geht auf das arabische Wort „haram“ zurück, was „verboten“ heißt. Der Harem war also ein privater Bereich im Palast, der für Außenstehende tabu war.

Eine Zeitzeugin war die Lyrikerin Lady Montagu. Sie lebte mit ihrem Mann, der britischer Botschafter in Konstantinopel war, am Bosporus und besuchte die Gemächer, die den Frauen vorbehalten waren. Sie schrieb, dass die Realität nichts mit den erotischen Gemälden des Orientalismus zu tun hatte, sagt der Islamwissenschaftler Professor Thomas Bauer von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster:

O-TON 3 (Bauer, 5.35)

Die Lady Montagu, die in dem 18. Jahrhundert herumreiste und sich damals schon mokierte über die ganzen Harems-Schilderungen, auch die Schilderung von Frauen-Bädern von Männern aus dem Westen (…) Lady Montagu sagte, dass sie eben die Einzige war, die auch in Frauen-Bädern war und die sah, wie absurd teilweise die Männerfantasien des Westens waren, die ja in einer Zeit entstanden, die ein sehr gespaltenes Verhältnis auch zur Sexualität hatte.

SPRECHERIN

Lady Montagu war zudem der Ansicht, dass türkische Frauen generell deutlich bessergestellt waren als britische.

O-TON 4 (Bauer, 03:46)

Die Lady Montagu sagte, dass die islamische Frau im Grunde freier ist als die britische Frau, weil sie über ihr eigenes Vermögen verfügen kann – was damals ja in England oder auch in Deutschland auch nicht ging. Das heißt, manchmal war die Frau sogar reicher als der Mann, es gibt einen bekannten Fall. Der berühmteste Hadith-Gelehrte überhaupt aus dem 14. Jahrhundert ist Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī. Der hatte die allerhöchsten Ämter inne, war Oberkadi in Kairo und hat im Haus seiner Frau gelebt, die eben noch reicher war.

SPRECHERIN

Durchschnittliche Muslime hatten keinen Palast und damit auch keinen Harem, Polygamie aber war - wie in anderen patriarchalischen Gesellschaften auch, zum Beispiel bei den alten Persern und den vorislamischen Arabern – erlaubt. Noch heute wird sie in einigen Ländern wie Pakistan, Afghanistan oder Nigeria praktiziert, in anderen Ländern ist sie verboten. Dabei war die Ehe mit mehreren Frauen im Islam aber nie die übliche Lebensform, sagt die Religionspädagogin Meltem Kulacatan von der Goethe-Universität Frankfurt am Main:

O-TON 5 (Kulacatan, 17.44)

Also (eine Konkubine oder wegen Nebengeräusch) eine Geliebte beziehungsweise mehrere Frauen, das wissen die betroffenen Männer, würde ich jetzt mal sagen - auch in Deutschland, muss man sich erst mal leisten können. Nichts Anderes ist das im Islam. Und es war als Notsituation, Notlösung gedacht für gesellschaftliche Situationen, wo Männer beispielsweise durch Kriege versehrt werden und wo es einen Frauenüberschuss gibt in einem patriarchalischen Kontext, wo Frauen einen Vormund benötigen und hier letzten Endes die Eheschließung mit maximal vier weiblichen Personen - vorausgesetzt, man wird ihnen allen gerecht auf die gleiche Art und Weise - ermöglicht werden sollte.

SPRECHERIN

Neben der Versorgung von Witwen wurden zum Beispiel auch Zweitfrauen genommen, wenn die Ehe mit der ersten Frau kinderlos blieb, sagt der Islamwissenschaftler Bauer:

O-TON 6 (Bauer, ca. 2.40)

Wenn man eine Frau heiratete, und man wollte bei ihr bleiben, hat aber festgestellt, dass der Kinderwunsch unerfüllt bleibt, da hat dann oft eine zweite Frau aus dem Dilemma geholfen. Aber man muss ja auch dazu sagen das ist natürlich, die Frauen untereinander sich ja auch irgendwie verstehen müssen – sonst wird die Ehe ja zu einer Hölle. Und in der Tat hat bei einigen Theologen diese Forderung, alle vier Frauen oder alle Frauen eins, zwei, drei (…) oder vier gleichermaßen gerecht zu behandeln, dazu geführt, dass man auch durchaus Verständnis für die (…) Monogamie entwickelt hat und sagte: eigentlich ist es nicht erlaubt.

SPRECHERIN

Umstritten unter Theologen ist die „Ehe auf Zeit“, eine zeitlich begrenzte Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau. Diese Genussbeziehung – die von schiitischen Strömungen als legitim angesehen wird - kann nur drei Tage oder auch mehrere Jahre dauern. Im Koran heißt es in Sure 4, Vers 24:

ZITATORIN (Koran, Rudi Paret)

Und verboten sind euch die ehrbaren Ehefrauen, außer was ihr an Ehefrauen als Sklavinnen besitzt. Dies ist euch von Gott vorgeschrieben. Was darüber hinausgeht, ist euch erlaubt, nämlich dass ihr euch als ehrbare Ehemänner, nicht um Unzucht zu treiben, mit eurem Vermögen sonstige Frauen zu verschaffen sucht. Wenn ihr dann welche von ihnen im ehelichen Verkehr genossen habt, dann gebt ihnen ihren Lohn als Pflichtteil! Es liegt aber für euch keine Sünde darin, wenn ihr, nachdem der Pflichtteil festgelegt ist, darüberhinausgehend ein gegenseitiges Übereinkommen trefft. Gott weiß Bescheid und ist weise.

SPRECHERIN

Die Frau bekommt also eine Ehegabe. Zudem muss der Mann während der Dauer der Verbindung für die Frau aufkommen. Männer, die sich zeitlich befristet verheiraten, können bereits eine Frau haben, Frauen müssen dagegen unverheiratet sein. Serdar Kurnaz, Professor für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin:

O-TON 7 (Kurnaz, 11.46)

Das ist eine alt-arabischen Tradition, die scheinbar einige Jahre auch (…) während der Lebzeiten des Propheten Mohammed (…) praktiziert worden ist. Die Überlieferungen zeigen, dass er das eine Zeit lang zugelassen hat. Scheinbar soll das die Verhältnisse regulieren, dass wenn jemand sich lange Zeit an einem anderen Ort befindet, (…) das ist eine Beziehung, die man führt, bei der danach ganz klar wird, dass jemand mit jemandem zusammen ist. Und wenn es Kinder aus dieser Ehe gibt beziehungsweise Beziehungen gibt, dann wird dieses Kind dann auch entsprechend identifiziert.

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Die Frauen mussten nach Ablauf ihrer Zeitehe zwei Menstruationszyklen warten, bis sie erneut heiraten durften. Im Iran ist die Zeitehe auch heute noch möglich. Die Kritik der Sunniten an dieser Form der Verbindung lautet, dass sie Prostitution ermöglicht, die es aber sowieso über Jahrhunderte gab. Zeitweise existierten Register, in die sich Prostituierte eintragen mussten. Es gab Tavernen, Bordelle und Unterkünfte, in denen man Prostituierte antraf. Prostitution wurde in mehreren Dynastien besteuert und war ein wichtiger Wirtschaftszweig.

In den meisten Epochen wurde das Gewerbe toleriert, manchmal aber auch bekämpft und bestraft, indem Prostituierte zum Beispiel des Viertels verwiesen wurden.

ZITATOR (S.82)

„Den Wein trägt ein Effeminierter in Frauenkleidung,

dessen Schläfe Moringaduft trägt.

Er küsst die Trinker, während

er sich flink unter uns bewegt.

Mal ist er unser Lustgarten

für unsere reifen und steifen Hengste,

mal ist er unser Schenker und Narzisse.“

SPRECHERIN

… schrieb der Dichter Abū Nuwās im 8. Jahrhundert über gleichgeschlechtlichen Sex, der durchaus üblich und verbreitet war. Ali Ghandour:

O-TON 8 (Ghandour, 8, 0.18)

Zum Beispiel, wenn wir jetzt das 9. und 10. Jahrhundert in Bagdad nehmen, waren die gleichgeschlechtlichen Beziehungen sehr verbreitet, auch unter der Oberschicht, aber auch unter der Unterschicht. Und das Gleiche kann man auch über das 15., 16. Jahrhundert in Ägypten sagen oder später auch über Istanbul sagen. Also, es war schon verbreitet, und in meiner Forschung habe ich kaum ein Phänomen, dass wir heute kennen, was nicht damals auch bekannt war und praktiziert war.

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Dies führte teilweise sogar dazu, dass sich Frauen in Bagdad weniger feminin gaben, um Männern zu gefallen, sagt der Berliner Wissenschaftler Kurnaz:

O-TON 9 (Kurnaz, ca. 3.02)

Es gab zum Beispiel Frauen, die sich bewusst ähnlich wie die Männer gekleidet haben, um aufzufallen.

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Doch die Frage, ob jemand heterosexuell oder homosexuell veranlagt war, stellte sich lange gar nicht. Diese Kategorisierung stammt aus dem späten 19. Jahrhundert. Thomas Bauer:

O-TON 10 (Bauer, 8.22)

In den islamischen Kulturen ging man einfach davon aus, dass alle erwachsenen Männer gleichermaßen sich in hübsche, junge Frauen und in hübsche, junge Männer verlieben können, die unterschiedlichen Vorlieben sah man nicht anders an als unterschiedliche Vorlieben beim Essen. Das heißt also, dass sich in einen jungen Mann zu verlieben war für einen Mann etwas, was (…) ihn nicht zur Überlegung brachte, ob er nun eine andere Identität hätte als andere Männer.

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Im Laufe der Jahrhunderte gab es - je nach Rechtsauffassung - gar keine Strafen für gleichgeschlechtlichen Sex bis hin zum Auspeitschen oder der Todesstrafe durch Steinigung. Eine Verurteilung war aber nur dann möglich, wenn vier männliche, muslimische, unbescholtene Zeugen den Akt beobachtet haben.

Das heißt, selbst in Epochen, in denen Sex zwischen Männern offiziell bestraft worden ist, wurden diese Strafen fast nie vollzogen.

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Auch Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen sind überliefert. Im 9. Jahrhundert soll eine Dienerin und Sängerin mit dem Namen Badhal vor dem abbasidischen Kalifen al Maʿmūn gesungen haben, dass nichts köstlicher sei als Sex mit einer Frau. Der Kalif soll geantwortet haben, dass der Sex zwischen Mann und Frau besser sei, als lesbischer Sex.

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Dies zeige, so Ali Ghandour, wie ungehemmt am abbasidischen Hof selbst vor den Mächtigen über Sex gesprochen werden konnte. Liebes- und Sexbeziehungen unter Frauen galten zwar als moralisch falsch, lösten aber offenbar keine gesellschaftlichen Debatten aus.

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Über Jahrhunderte waren die Sichtweisen in Bezug auf Erotik, Liebe, Leidenschaft und Sexualität sehr liberal. Zu einem klaren Wandel kam es jedoch im 19. Jahrhundert, so Ghandour:

O-TON 11 (Ghandour, 9, 0.12)

Durch den Kolonialismus wurden Vorstellungen über die Sexualität und auch eine Sexualmoral verbreitet, die damals ziemlich konservativ war. Wir denken jetzt zum Beispiel an die viktorianische Sexualmoral.

Auch die Einführung von neuen Kategorien, mit denen wir die Sexualität normieren, wie zum Beispiel das Perverse, das Nicht-Natürliche… Oder die Gesetze, die von Franzosen und Engländern erlassen wurden, die zum Beispiel die Homosexualität in den Kolonien verbieten.

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Auch der Islamwissenschaftler Thomas Bauer sieht einen deutlichen Anteil des Westens an der heutigen Sexualmoral in muslimisch geprägten Ländern:

O-TON 12 (Bauer, 34,38)

Also, zuerst hielt man islamische Gesellschaften für unmoralisch, und dachte, man muss sie (…) von diesen schrecklichen Lastern befreien. Heute hält man sie für repressiv und sagt: Man muss sie ja von dieser Repression befreien. Das glaube ich ist wirklich ein wichtiger Punkt. Was im Westen ist, was bei uns hier geschieht, es ist immer universell. Solange wir dachten, dass Liebesbeziehungen zwischen Männern etwas Unordentliches sind und diese Muslime sich in diesen schrecklichen Lastern hier suhlen und damit auch zu keiner richtigen Entwicklung kommen, da ist man hingegangen, hat gesagt: Ihr müsst damit aufhören oder auch Polygamie und ähnlichen Dingen. Heute gilt es bei uns ja als ganz normativ, das ist ja was Gutes bei uns. Jetzt geht man hin und sagt: Ihr müsst euch jetzt befreien und in die andere Richtung gehen. Ich glaube, dass diese missionarischen Botschaften, die vom Westen kommen, der sich immer egal welche Meinung er hat, für universell und für Menschheits bildend hält, dass das ein Übel ist.

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Nach Ansicht von Ali Ghandour gibt es aber noch weitere Aspekte, die zu einem Wandel geführt haben wie die Entstehung von modernen Nationalstaaten oder auch die Entstehung von muslimischen Ideologien, die mehr oder weniger sexfeindlich waren:

O-TON 13 (Ghandour, 9, 1.23)

Und ein weiterer Grund ist die Landflucht, die im Laufe des 20.Jahrhunderts stattfand und die dazu geführt hat, dass diese alte, urbane, mehr oder weniger bürgerliche Tradition verschwand.

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Tatsächlich sind viele muslimische Gesellschaften heute deutlich konservativer als noch vor ein paar Jahrhunderten. Doch solange es um einen normativen Diskurs geht und einen Bezug auf historische Quellen gibt, fühlen sich viele islamische Gelehrte noch immer frei, detailliert über Sex und Erotik zu sprechen, betont Serdar Kurnaz:

O-TON 14 (Kurnaz, 16.30)

Zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Pflichten hat der Mann gegenüber der Frau in der Ehe in Bezug auf Geschlechtsverkehr, dann werden auch zum Beispiel so Überlieferung zitiert, und dann wird darüber gesprochen, wie genau ein Geschlechtsakt auszusehen hat. (…) Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Gelehrten sich dazu verpflichtet fühlen, vor allem in dem normativen Diskurs (…) detailliert darzustellen, wie, was gemacht werden kann oder was alles erlaubt ist, um auch der Verpflichtung gerecht zu werden, dass sie all das, was sie für richtig halten, den Menschen auch entsprechend kommunizieren. Da fühlen Sie sich frei. Da geht es auch darum, zum Beispiel bestimmte sexuelle Praktiken (…), zum Beispiel Sexspielzeuge zu benutzen, Cremes zu benutzen und so weiter, um die Lust zu maximieren, nehmen sie dann als Anlass, eine normative Aussage darüber zu treffen, - und dann wird es auch recht detailliert und recht offen.

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Moderne Sexualpädagogik für junge Musliminnen und Muslime in Deutschland dreht sich – wie bei jungen Menschen anderer Religionen auch - um Fragen wie: Wie gehe ich mit meinem Körper um? Wie gehen wir mit unserer Lust um? Was bedeuten Verlobung und Hochzeit? Welche Verhütungsmöglichkeiten gibt es? Die Frankfurter Religionspädagogin Meltem Kulacatan:

O-TON 15 (Kulacatan, 14.20)

Es gibt ja auch Sexualaufklärer/innen - muslimische, die hier pädagogische Arbeit leisten, sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden und in Schweden beispielsweise. Die werden häufig von den jungen Menschen angerufen, auch frequentiert und angefragt.

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Die Religionspädagogin Fahimah Ulfat, Professorin an der Universität Tübingen, plädiert deshalb dafür, dass Sexualität nicht nur im Biologie-, sondern auch im Religionsunterricht thematisiert wird:

O-TON 16 (Ulfat, 3.1, 1.20)

Ja, im islamischen Religionsunterricht ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass Sexualität ein Teil des Menschseins ist. Und dass es auch wichtig ist, die eigene Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sich über seinen eigenen Körper bewusst zu werden, sich ein Bild von den eigenen Genitalien und dem Körperinneren zu machen, das heißt auch, seinen eigenen Körper zu erfahren.

SPRECHERIN

Viele muslimische Jugendliche befänden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität.

O-TON 17 (Ulfat, 2, 2.00)

Beispielsweise wird in manchen konservativen Familien Sexualität zum Teil tabuisiert. Es wird mit Scham und Respekt verbunden, und man spricht eben nicht darüber und zum Teil wird auch ein enger Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Ehre hergestellt. Und mit diesem Konzept der Familienehre gehen auch geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen einher.

SPRECHERIN

Andere junge Muslime kritisierten die traditionellen Rollenbilder und die Moralvorstellungen von Keuschheit und Ehre, so Ulfat:

O-TON 18 (Ulfat, 2.48)

Sie äußern sich eben kritisch zu den Einstellungen, das Männer zugebilligt wird, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, aber von Frauen erwartet wird, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen. Und sie verurteilen auch diese starren Geschlechterrollen und die unterschiedliche Sexualmoral in Bezug auf die Geschlechter. Es gibt aber auch muslimische Jugendliche, die ihre Sexualität als ihre private Angelegenheit ansehen und Sexualität ist dann auch für sie ein selbstverständlicher Teil ihrer persönlichen Identität. Aufklärung findet zum Beispiel innerhalb der Familie sehr früh in einer offenen Art und Weise statt und Ehre wird auch von den Eltern nicht am Sexualleben der Tochter festgemacht. (…) Und dann gibt es natürlich auch Beispiele für junge Musliminnen, die sich eben nicht an diese Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen auch außerhalb der Ehe sammeln.

SPRECHERIN

Untersuchungen zeigen, dass die Art und Weise, wie Muslime heutzutage in unterschiedlichen Ländern über die Sexualität sprechen, wie sie ihre Sexualität leben, eben nicht nur von der Religion abhängt. Ali Ghandour:

O-Ton 19 (Ghandour, Take 11, 0.24)

Zum Beispiel die soziale Herkunft oder die Bildung spielen hier eine wesentliche Rolle. Das heißt, in der Oberschicht und in der Mittelschicht, in den urbanen Milieus, in den muslimisch geprägten Ländern wird offener mit dem Thema umgegangen als jetzt auf dem Land oder in bildungsfernen Milieus oder in der Unterschicht. Es ist auch eine soziale Frage, wie man mit dem Thema umgeht, hat auch mit Privilegien zu tun und nicht nur (…) mit der Religion oder mit einem bestimmten Islamverständnis zu tun.

SPRECHER / ZITATORIN (abwechselnd)

Zügellos. Zurückhaltend. Schamlos. Schambehaftet. Freizügig. Bedeckt. Homophob. Erotisch. Selbstbewusst. Lust-betont. Orgiastisch.

SPRECHERIN

Es gibt nicht DEN Islam, nicht DIE allgemeingültigen Regeln für Sexualität und Liebe, sondern unterschiedliche Interpretationen, Ausprägungen, Ansichten und Lebensweisen – die je nach Epoche, Region und Gesellschaftsschicht fluide sind.

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